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„Gerade jetzt ist unsere Hilfe noch dringender“

Dr. Sebastian Brandis von „Menschen für Menschen“ spricht über Corona in Äthiopien, die Heuschrecken-Plage und die SgH-Schulen

Von Carsten Boning

Herr Brandis, wie ist die Corona-Lage in Äthiopien?
Äthiopien hat frühzeitig angefangen, dass Corona-Thema vorzubereiten und sich darauf einzustellen. Sie haben schon vor drei, vier Wochen die Schulen und Universitäten geschlossen. Der öffentliche Verkehr ist auf die Hälfte reduziert, in Bussen dürfen also nur die Hälfte der Leute fahren. Die Bevölkerung bereitet sich auf die Epidemie vor, wenngleich es bislang nur so um die 150 Fälle gibt.

Die Zahl dürfte vor allem am geringen Testaufkommen liegen?
Genau, sie haben bislang nur 12.000 bis 15.000 Leute getestet. Sie haben gar nicht die Testkapazitäten. Sie bauen die Kapazitäten jetzt sehr systematisch auf. Sie sind, was man so vom Gesundheitsministerium hört, gut organisiert. Es gibt tägliche Updates. Das Social Mobilizing in Bezug auf Vorsicht und Abstand läuft gut. Masken werden vor Ort produziert und verkauft, Desinfektionsmittel gibt’s auch genug. Sie bereiten sich gut vor.

Ist die Angst groß? Was berichten die MfM-Mitarbeiter vor Ort?
Die Leute sind sehr ängstlich, weil sie einfach wissen, dass ein Großteil der Bevölkerung von der Hand in den Mund lebt. Auch in den Städten, wo Corona eine größere Bedrohung ist. Wenn so ein Straßenverkäufer, der keine Rücklagen hat, mal drei bis sechs Wochen nicht arbeiten darf, geht es voll ans Eingemachte. Für die meisten Menschen ist es schnell existenzbedrohend. Die Angst ist viel größer als bei uns.

Vorstand der Stiftung:
Dr. Sebastian Brandis. Foto: MfM

Sieben von zehn Menschen in Äthiopien leben von der Landwirtschaft. Wie unterscheiden sich die Corona-Auswirkungen in der Stadt von denen auf dem Land?
Nun, die ersten positiven Fälle gab es natürlich in den Städten. Aber wir hören jetzt auch von den ersten im ländlichen Raum, wenngleich es im Moment marginal ist. Die Umstellung in den Städten ist viel größer, viel schneller. Auf dem Land leben die Menschen eh mit mehr Abstand und sie haben größtenteils ihre eigene Versorgung, sie müssen nicht auf irgendwelche Läden hoffen. Die können sich beim Bauern nebenan versorgen oder haben alles selbst. Das ist schon anders im Vergleich zur Stadt. Gleichzeitig haben sie auf dem Land eine viel schlechtere Wasserversorgung. Das bedeutet, dass sie dort auch viel schwieriger die Hygiene-Bedingungen einhalten können. Sie tummeln sich um ein paar wenige Wasserstellen. Dort ist die Ansteckungsgefahr dann genauso groß wie in den Städten. Auch die Gesundheitsversorgung auf dem Land ist viel schlechter. Die paar Intensivbetten, die es überhaupt gibt, es sind eh nur gut 400 im ganzen Land bei 110 Millionen Einwohnern, die sind natürlich nicht auf dem Land.

Hat die Wasserversorgung im Moment die oberste Priorität bei der Arbeit der Stiftung?
Ja, wir haben erste Maßnahmen ergriffen. Die Projekte, die mit Wasser zu tun haben, haben wir versucht zu beschleunigen. Im Gebiet Dano haben wir die komplette Hauptstadt der Region, die 15.000 Einwohner hat, mit Wasser versorgt. Wir haben ein System gebaut mit 20 Entnahmestellen und es jetzt frühzeitig live geschaltet, zwei Monate vor der Planung. Und wir überlegen gerade weitere Hygiene-Maßnahmen mit mobilen Wassertanks, um die Leute dort zu versorgen, wo es keine Pumpen oder Brunnen gibt. Wir sehen gerade, wie wichtig und nachhaltig unsere Arbeit ist. Wasser, Hygiene und der Bereich Ernährung – all das ist ja auch ein Schutz vor Corona. Je besser man ernährt ist und je gesünder, desto weniger leidet man unter dem Virus.

In Wore Illu und Ijaji werden gerade zwei neue Higher Secondary Schools gebaut, die SgH-Schulen drei und vier. Bremst die Corona-Krise die Projekte aus?
Nein, nicht wirklich. Im Moment bremst sie vielleicht nur bei kleineren logistischen Themen, wenn ein Lastwagen nicht rechtzeitig kommt. Die Arbeiter auf den Baustellen müssen natürlich mehr Abstand wahren und Masken tragen, das behindert ein bisschen. Aber die Projekte sind auf keinen Fall gestoppt, die Bauten gehen weiter. Wir gehen im Moment von keiner großen Verzögerung aus.

In Kelecha Jibat entstand die erste SgH-Schule, in Dobi die zweite. Wie sieht der Alltag dort aus?
Im Moment sind auch diese Schulen geschlossen, das gilt für alle im ganzen Land. Es gibt auch Versammlungsverbote, die uns in unserer Arbeit leider hindern, wichtige Maßnahmen durchzuführen. Wir können in den Schulen kein WaSH-Training (Anm.: Wasser, Sanitär, Hygiene) machen, keine Impfkampagnen, das ist alles auch eingeschränkt.

Und wie lief der Betrieb in Kelecha Jibat und Dobi vor Corona?
Die Schulen selbst waren bis zum Lockdown Ende März super in Betrieb, sie wurden sehr gut angenommen. In beiden Schulen haben sich bereits Arbeitsgruppen entwickelt, Clubs nennen die das. Jede Schule hat so zehn bis zwölf Clubs. Da geht’s dann um Mädchen-Clubs, Agrar-Clubs, Theater-Gruppen – das ist alles super angelaufen. Wir sehen, dass die Abschlussraten besser sind. Die Kinder gehen danach auf bessere Schulen, sie haben durchschnittlich bessere Noten. Und die Disziplin zu kommen, ist höher, weil es auch Waschräume in den neuen Schulen gibt. Das ist gerade für die Mädchen wichtig. In Zeiten, wo sie ihre Menstruation haben, war es für sie immer schwierig. Sie kamen ungern zur Schule, weil sie sich nicht zurückziehen und waschen konnten. Das ist jetzt viel besser, und das erhöht einfach die Präsenz der Kinder.

Im März gab’s in Ostafrika die größte Heuschreckenplage seit 25 Jahren. Riesige Schwärme bedrohten Existenzen. Wie ist die Situation in Äthiopien?
Äthiopien ist zum Glück in der ersten Welle glimpflich davongekommen. Es gab schon Randgebiete, zum Beispiel an der Grenze zu Somalia, da war es schon schwierig. Aber zeitlich hatten wir in Äthiopien Glück. Die Heuschrecken kamen, als die Ernte schon zu 90 Prozent eingefahren war. Sie haben die Ernte nicht kaputtgemacht. Aber natürlich haben sie an einigen Stellen die Vegetation zerstört und alle grünen Blätter gefressen. So hatten die Tiere der Bauern weniger zu essen, das hat schon Aktivität und Gegenmaßnahmen nötig gemacht. Unsere Regionen, in denen wir tätig sind, also eher im Norden und Westen des Landes, waren nicht betroffen.

Aber die Gefahr ist noch nicht gebannt …
Nein, wir erwarten jetzt im Juni, Juli leider eine zweite Welle, und die könnte für alle heftiger werden. Im Süden von Äthiopien und im Osten geht man im Moment von bis zu zehn Millionen Menschen aus, die betroffen sein könnten. Das Thema ist noch nicht vorbei und kommt zu Corona obendrauf. Klar ist: Es wird viel mehr Leute geben, die man mit Nahrungsmitteln versorgen muss.

Viele Unternehmen und auch Privatpersonen stehen in Zeiten von Corona unter einem großen wirtschaftlichen und finanziellen Druck. Erwarten Sie einen starken Rückgang bei den Spenden? Wie gehen Sie damit um?
Wir bereiten uns insofern darauf vor, dass wir versuchen, die Partner und Spender anzusprechen, die selbst wirtschaftlich unabhängiger sind und im Moment nicht so unter der Situation leiden. Ich meine die öffentliche Hand, Stiftungen und zum Teil auch andere Organisationen. Alle zeigen sich solidarisch und wollen uns weiter unterstützen. Wir haben aktuell noch keinen Spendeneinbruch erlebt. Aber ich rechne damit, dass wir in der zweiten Jahreshälfte Einbußen erleben werden. Im nächsten Vierteljahr haben viele Menschen mehr Klarheit. Wir haben viele Partner aus der Gastronomie, die leiden massiv, da brechen die Spenden komplett ein. Insgesamt sind wir aber, toi toi toi, gut dabei. Wir haben Gott sei Dank Rücklagen gebildet, um unseren vertraglichen Verpflichtungen vor Ort nachkommen zu können, selbst bei einem temporären Einbruch der Spenden. Wir versuchen alles, um nicht die Projektarbeit in Äthiopien reduzieren zu müssen. Denn gerade jetzt, wo es da mit Corona auch losgeht, ist unsere Hilfe noch dringender als vorher.

 „Menschen für Menschen“ und SgH
– Die Stiftung „Menschen für Menschen“ des früheren Schauspielers Karlheinz Böhm ist seit 1981 in Äthiopien tätig und wird bei dieser Arbeit seit 1984 von der OV/KSB-Aktion „Sportler gegen Hunger“ unterstützt.
– In mittlerweile 36 SgH-Jahren hat „MfM“ insgesamt 2,803 Millionen Euro von den heimischen Sportlern und Vereinen erhalten.
– Seit der Saison 2014/15 finanziert SgH mit zweckgebundenen Erlösen den Neubau von Schulen in Äthiopien. Bislang wurden 1,096 Millionen Euro investiert.
– Aktuell bauen SgH und MfM zwei „Higher Secondary Schools“ für jeweils 2300 Schüler der Klassen neun und zehn – eine in Wore Illu Town im Nordosten des Landes sowie eine in Ijaji westlich von Addis Abeba.
– Zwei SgH-Schulen sind bereits in Betrieb – es sind die „Higher Primary Schools“ für rund 1300 bzw. 1000 Schüler der Klassen eins bis acht in Kelecha Jibat (seit 11/2017) und Dobi (seit 06/2019). Beide Orte gehören zur Region Dano, die seit 2013 ein MfM-Projektgebiet ist.
– Dr. Sebastian Brandis (52) ist seit Dezember 2016 Vorstandssprecher der Stiftung Menschen für Menschen, die ihren Sitz in München hat.