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„Äthiopien leidet unter sehr großen Schmerzen“

Dr. Sebastian Brandis von „Menschen für Menschen“ besuchte einige Projektgebiete – und die Baustelle der vierten SgH-Schule

Von Carsten Boning

München. Gut anderthalb Monate ist es jetzt her, dass Dr. Sebastian Brandis letztmals in Äthiopien war. Im Oktober reiste der Vorstandssprecher der Stiftung „Menschen für Menschen“ zwei Wochen lang durch das riesige Land am Horn von Afrika, das rund dreimal so groß ist wie Deutschland. Brandis besuchte die MfM-Zentrale in der Hauptstadt Addis Abeba sowie diverse Projektgebiete der Stiftung. Land und Leute sind ihm längst vertraut, die frischen Eindrücke sind dennoch prägend. „Äthiopien leidet gerade unter sehr großen Schmerzen“, erklärt Brandis angesichts einer Handvoll riesiger Probleme, die das Land derzeit hat. Corona ist nur eins davon.

Die Not ist groß, größer als in der jüngeren Vergangenheit. „Wir müssen jetzt erst recht präsent sein“, sagt Brandis. Seit 1981 ist „MfM“ in Äthiopien tätig – und seit 1984 ist die OV/KSB-Aktion „Sportler gegen Hunger“ ein wichtiger Partner der Stiftung, die einst vom früheren Schauspieler Karlheinz Böhm gegründet wurde. Wie immer beginnt am 1. Dezember ein neuer SgH-Winter, so auch in diesem Jahr. Es ist die 37. Saison, in der sich heimische Sportler für SgH engagieren. 4,832 Millionen Euro sind bislang in 36 Jahren für die Ärmsten der Armen in Afrika gesammelt worden. Davon gingen 2,8 Millionen Euro an „Menschen für Menschen“.

Seit dem Winter 2014/15 fließen die SgH-Spenden zweckgebunden in Schulbauten in Äthiopien. Die beiden Higher Primary Schools in Kelecha Jibat und Dobi waren die ersten SgH-Schulen, die in Kooperation mit „Menschen für Menschen“ fertiggestellt wurden. Im vergangenen Sommer folgte dann die Higher Secondary School in Wore Illu. Schule Nummer vier entsteht gerade im Bezirk Illu Gelan – gemeint ist die Ijaji Higher Secondary School für über 2000 Schüler der Klassen neun und zehn. „Das Fundament ist fertig“, erzählt Brandis, der die Baustelle besucht hat. Auf dem Weg ins Projektgebiet Dano, das an Illu Gelan grenzt, hatte er einen Abstecher in die 20 000-Einwohner-Stadt Ijaji gemacht, die seit Jahren unter chronischem Wassermangel leidet und nun eine langersehnte, komplette WaSH-Infrastruktur erhält. WaSH steht für Wasser, Sanitärversorgung und Hygiene.

Die Baufortschritte in Ijaji freuten Brandis, er wurde in den zwei Wochen aber auch mit den großen Problemen konfrontiert. Vor allem in den ländlichen Regionen reiht sich eine Katastrophe an die nächste. Stichwort Überschwemmungen. „Nach drei Jahren der extremen Dürre gab’s nun Regenfälle wie seit 10, 20 Jahren nicht mehr“, sagt Brandis und ergänzt: „Äthiopien ist ein Land mit unheimlich vielen Flüssen – und viele davon sind über die Ufer getreten.“ Große Erntemengen sind verloren gegangen, Weidevieh ist ertrunken, Hunderttausende Menschen haben ihr Zuhause verloren. Vor allem entlang des Flusses Omo im Südwesten des Landes, in der Woreda Dasenech an der Grenze zu Kenia, leiden derzeit Zehntausende unter den Folgen der Überflutungen. „Wir leisten da jetzt verstärkt Nothilfe“, erzählt Brandis. Obwohl die Kernaufgabe der Stiftung in nachhaltiger Entwicklungszusammenarbeit besteht, hat die Soforthilfe nun Priorität – es geht um die Lieferung von grundlegenden Hilfsgütern wie Mais, Speiseöl, proteinreicher Ergänzungsnahrung und sauberem Wasser. „Es fehlt am Allernötigsten“, so Brandis über die „dramatische Lage“.

Der Osten des Landes ächzt derweil unter den Folgen der Heuschrecken-Plage, die monatelang wütete. Auch die Region Wore Illu, 300 Kilometer nordöstlich von Addis Abeba gelegen und die Heimat der dritten SgH-Schule, war in Teilen betroffen. „Zum Glück war die Ernte schon abgeschlossen, aber die Vegetation hat sehr gelitten“, sagt Brandis. Und das habe Folgen für das Weidevieh der Bauern. Zur Einordnung: Sieben von zehn Menschen in Äthiopien leben von der Landwirtschaft.

Im Norden von Äthiopien, an der Grenze zu Eritrea, tobt indes ein kriegerischer Konflikt um die abtrünnige Region Tigray, die bisher von der Volksbefreiungsfront TPLF kontrolliert wurde. Die Regionalhauptstadt Mekele war das Ziel einer großen Militäroffensive der äthiopischen Regierung. Über 40 000 Menschen sind in das Nachbarland Sudan geflohen, Hilfsorganisationen warnen vor einer humanitären Katastrophe in Tigray. „Im Moment ist es ein lokaler Konflikt, aber das kann sich schnell ändern. In unseren Projektgebieten ist es ruhig, unsere Arbeit vor Ort ist nicht betroffen. Aber mental belastet das alle sehr, auch uns als MfM-Team. Wir haben Mitarbeiter aus allen Ethnien“, berichtet Brandis und fürchtet: „Das Thema wird nicht schnell vorbei sein.“ Äthiopien ist mit über 80 ethnischen Gruppen und zahlreichen Sprachen ein Vielvölkerstaat und zugleich mit 112 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Binnenstaat der Welt.

Einen wirtschaftlichen Konfliktherd gibt’s auch. Gemeint ist das 3,6 Milliarden Euro teure Staudamm-Projekt „Grand Ethiopian Renaissance Talsperre“ am Oberlauf des Blauen Nils. Seit 2011 wird an Afrikas größtem Wasserkraftwerk gebaut, das die Stromproduktion des Landes verdoppeln soll. Mehr als die Hälfte der äthiopischen Bevölkerung lebt derzeit ohne Strom. Das Füllen des Stausees hat inzwischen begonnen. Die beiden flussabwärts gelegenen Nil-Anrainer-Staaten Sudan und Ägypten fürchten nun um ihre Wasserversorgung. „Auch das ist ein Pulverfass“, sagt Brandis – verbunden mit der Hoffnung, dass alles ruhig bleibt.

Bild: Ungewöhnlich starke Regenfälle haben für Überschwemmungen gesorgt – hier in der „South Omo Zone“ im Süden Äthiopiens. Foto: MfM